Die Nahtod-Erfahrung als Prototyp ekstatischer Erfahrungen
Von Prof. Dr. Torsten Passie
In diesem Text soll einer Idee nachgegangen werden, die sich vielleicht am besten in einer Frage formulieren lässt: Inwieweit handelt es sich bei der „typischen“ Nahtod-Erfahrung (NTE) bzw. dem Spektrum ihr zugeordneter Erlebnisphänomene um den Prototyp ekstatischer Erfahrungen? Die ersten Anstöße dazu stammen aus den Vorarbeiten zu einer Dissertation mit dem Arbeitstitel „Zur differentiellen Phänomenologie ekstatischer Zustände“, die 2007 an der Medizinischen Hochschule Hannover begonnen wurde. Dabei ging es darum, über die „Auflistungen“ von Begleiterscheinungen und Phänomenen ekstatischer Zustände hinauszugelangen und möglichen Unterschieden oder Gemeinsamkeiten von Untergruppen ekstatischer Zustände nachzugehen. Vor allem die Unterschiede ergeben sich erstaunlich zwanglos, sobald man genauer hinsieht. Um diese zu charakterisieren, war jedoch eine Beschreibung der Einzelstrukturen des Erlebens notwendig.
Nachdem wir eine umfassende Sammlung und Gliederung der im Rahmen ekstatischer Zustände erlebten Phänomene bzw. Erlebnisweisen erstellt hatten, fiel uns auf, dass lediglich zwei der vielfältigen Induktionsbedingungen ein wirklich umfassendes Spektrum von Erlebnisphänomenen erzeugen. Es sind dies zum einen ekstatische Erlebnisse, wie sie durch die psychedelischen Substanzen wie LSD, Dimethyltryptamin (DMT) oder Psilocybin erzeugt werden können; zum anderen die im Rahmen von NTE geschilderten ekstatischen Erfahrungen. Innerhalb dieser beiden Modalitäten können jeweils praktisch sämtliche das ekstatische Erleben kennzeichnenden Erlebnisphänomene auftreten.
Dass dies bei den pharmakologisch recht vielfältigen psychedelischen Substanzen so sein kann, mag noch einleuchten, da hier womöglich in ganz unterschiedlicher Weise Hirnfunktionen beeinflusst werden und es daher zu einem sehr breiten Spektrum von Erlebnisveränderungen kommen kann. Weniger leicht verständlich erscheint dagegen, warum die NTE ein solch breit gefächertes Spektrum von Erlebnisphänomenen hervorbringen. Auch bei den NTE sind die physiologischen Zuständlichkeiten, auf deren Basis sich diese Phänomene ereignen, teils sehr unterschiedlich (z.B. völlige gesundheitliche Intaktheit bei Bergsteigerabstürzen oder pathophysiologische Zustände bei schweren Erkrankungen). Doch kann unter beiderlei Bedingungen das volle Spektrum der Erlebnisphänomene der NTE zustande kommen. In diesem Aufsatz sollen zunächst die Eigenarten des ekstatischen Erlebens skizziert werden, um dann in einer Zusammenschau die oben genannte Hypothese zu diskutieren.
Phänomene ekstatischen Erlebens unter Psychedelika
Bekanntermaßen werden psychedelische Substanzen seit Jahrtausenden zur Erzeugung von Trance und ekstatischen Zuständen verwendet (Schultes und Hofmann 1980). Durch diese Substanzen wird das Erregungsniveau im ZNS gesteigert und die Hirnaktivität umstrukturiert (s. Vollenweider 2001a, Carhart-Harris et al. 2012). Hatte man die durch die Psychedelika erzeugten Zustände zunächst für eine „experimentelle Psychose“ (Leuner 1962) gehalten, so stieß man – eher zufällig – zu Beginn der 1960er Jahre auf die Möglichkeit, mit diesen Mitteln ekstatische Zustände zu erzeugen. Im Jahre 1962 untersuchte dann der Arzt und Theologe Walter Pahnke an der Harvard Universität in einem Doppelblindversuch die Möglichkeit, mystisches Erleben durch Psilocybin zu stimulieren. Er fand eine Vielzahl von Übereinstimmungen des durch Psilocybin erzeugten mystisch-ekstatischen Erlebens mit den Kategorien, die von Stace (1960) für mystisch-ekstatische Erfahrungen herausgearbeitet wurden (Pahnke 1963, 1966):
- Transzendieren der Subjekt-Objekt-Relation. Hierunter sind Einheitserlebnisse zu verstehen, in denen der Betreffende den Unterschied von Ich und Umwelt nicht mehr erfährt; es kommt gleichsam zu einem Verschmelzen des Ichs mit der Umwelt. Meister Eckhart prägte die Formel „Alles ist Eines und Eines ist Alles“ für diese Erlebnisse.
- Transzendenz von Raum und Zeit. Während des mystischen Erlebnisses kommt es zu einem Verschwinden der Zeitempfindung, beschrieben häufig als Empfindung der „Ewigkeit“, zeitlosen Glücks usw. Außerdem scheinen Vergangenheit und Zukunft nicht mehr von Bedeutung zu sein, und es kommt zum Empfinden des „absoluten Augenblicks“. Das Transzendieren des Raumes bedeutet, dass die Person während des Erlebens die gewöhnliche Orientierung im Sinne einer dreidimensionalen Wahrnehmung der Umgebung verliert; erfahren wird dies als Erlebnis der „Unbegrenztheit“.
- Tief empfundene positive Stimmung. Die tragenden Gefühle mystischer Erlebnisse werden beschrieben als Freude, Seligkeit, Liebesempfindungen und innerer Frieden.
- Das Gefühl der Heiligkeit. Das „Gefühl der Heiligkeit“ ist eine nicht-rationale, intuitive, Schweigen herbeiführende Gefühlsempfindung voller Ehrfurcht und Erstaunen gegenüber den Gegebenheiten.
- Empfindung der Objektivität und Wirklichkeit: 1. auf einer intuitiven, nicht-rationalen Ebene durch direktes Erleben erlangte Erkenntnis; 2. die unmittelbare Gewissheit, dass solches Erkennen wahr ist.
- Paradoxie. Beschreibungen mystischen Erlebens haben die Eigenart, sich als logisch widersprüchlich zu erweisen. Beim Erleben innerer Einheit geht z. B. aller empirische Gehalt in einer leeren Einheit verloren, die zugleich vollständig angefüllt ist. Das „Ich“ existiert (z. B. als das Erlebnis erinnerndes) – und existiert doch nicht.
- Unaussprechbarkeit. Die Mystiker bestehen darauf, dass das mystische Erleben nicht in Worten ausgedrückt werden kann (Pahnke 1963).
Es ist vorsorglich darauf hinzuweisen, dass diese Merkmale mystischen Erlebens nur einen Ausschnitt möglicher Komponenten ekstatischen Erlebens unter Psychedelika darstellen. Daher sollen hier noch einige weitere Phänomene angeführt werden. Dazu gehören etwa das Empfinden einer Einengung und Ausweitung des Bewusstseins, Aufhebung von Wahrnehmungsgewohnheiten, Zurücktreten konzeptueller Kognition, starke Gefühlsempfindungen, gesteigerte Imaginationstätigkeit, verändertes Körpererleben, Schwebeerlebnisse, außerkörperliche Erfahrungen, Selbstvergessenheit, Verbundenheitserleben mit der Umwelt, Empfindungen des Aufgehobenseins in etwas Umfassenderem/ Übergeordnetem, Lichterlebnisse und visionäres Erleben.
Visionäres Erleben unter Psychedelika ist nicht selten von persönlichen Inhalten erfüllt, kann aber auch archetypische oder „transpersonale“ Qualitäten besitzen. Das Spektrum visionären Erlebens reicht vom Visualisieren einfacher geometrischer „Formkonstanten“ (Klüver 1966) wie Spinnweben, Spiralen, Gitter usw. über persönlich bedeutsame Bilder bis zu ganzen dreidimensional erlebten Szenen, die sich als fließendes Auseinanderhervorgehen gestalten und die Begegnung mit mythischen oder anderen Wesenheiten beinhalten können. Visionär imaginierte Begegnungen mit Gott, dem Teufel und/oder religiösen Wesen sind nicht häufig, kommen aber regelmäßig vor (Masters und Houston 1966; Grof 1978; Strassman 2004). In den meisten Fällen sind diese Erscheinungen kongruent zum Gefühlserleben integriert und mit adäquaten Sinngehalten und Bedeutungen erfüllt. Außerdem erleben Betroffene nicht selten „kathartische“ Begegnungen mit Vergangenem und Gegenwärtigem, was mit emotionalen Abreaktionen einhergehen kann (vgl. Passie und Scharfetter 2013).
Grundsätzlich gehören die Ekstasen unter Psychedelika zum Typ der luziden Ekstasen, bei denen Bewusstseinsklarheit und weitgehend intakte geistige Funktionen bestehen; dies im Unterschied zu den somnambulen Ekstasen, die typischerweise mit einer Trübung des Bewusstseins und Gedächtnisstörungen einhergehen (Passie 2011).
Es soll noch erwähnt werden, dass die psychedelischen Erfahrungen sich typischerweise in einer bestimmten Sequenz abspielen und nicht in jedem Fall dieselbe Qualität und Quantität von Erlebnisphänomenen in Erscheinung tritt. Die typische Sequenz stellt sich in etwa folgendermaßen dar: initiale vegetative Erscheinungen (Angst, Schwitzen, Übelkeit u.a.) > primitive visuelle Erscheinungen > gesteigertes Gefühlserleben > komplexeres szenisches visuelles Erleben > psychodynamische und kathartische Erfahrungen > mögliches ekstatisches Erleben > Vertiefung von Einsichten in Verhalten, Persönlichkeit, Beziehungen und Wirkungen auf andere > Wiederherstellung des normalen Bewusstseinszustandes > „psychedelischer Afterglow“ für einige Tage > transformierende Folgewirkungen.
Im Zusammenhang mit der hier entwickelten Hypothese sind die Nachwirkungen der durch Psychedelika hervorgebrachten mystisch-ekstatischen Erlebnisse von besonderem Interesse.
Diese Nachwirkungen wurden schon in den 1960er Jahren beforscht und zeigen, dass Menschen, die zu solchen Erfahrungen gelangten, oft einen bedeutsamen Wandel von Wertewelt, persönlicher Orientierung und nicht selten einen transformativen Persönlichkeitswandel mit einer Vermehrung von Toleranz und Mitgefühl, verminderter materieller Orientierung, Vermehrung von Offenheit, Demut und Altruismus zeigen (McGlothlin et al. 1967; Fadiman 1966; Griffiths et al. 2006; McLean et al. 2011).
Diese Nachwirkungen von mystischen Erfahrungen beeinflussen die Persönlichkeitsentfaltung in der Regel dauerhaft und sind gewöhnlich sehr nachhaltig (Griffiths et al. 2008).