Schamanische Heilungspraktiken können über die oben schon genannten Techniken auch Bäder, Beschwörungen, Gesänge, magische Chirurgie und eine Reihe prophylaktischer Praktiken beinhalten. Doch beinhalten sie auch meist weniger Spektakuläres wie etwa klärende und stützende Gespräche mit den Betroffenen und deren Angehörigen, Erhebung der körperlichen und psychiatrischen Anamnese, die Überweisung an andere Schamanen oder Heilkundige usw. Ein schamanisches Heilritual soll Geborgenheit, Klärung, Führung, Sichanvertrauen, Sichausdrücken, aber auch kathartische Wirkungen und systemische Aspekte sozialer Regulation vermitteln. Das Miteinbeziehen der Angehörigen ist eher typisch und unterstützt bzw. verstärkt in der Regel die Interventionen des Schamanen bzw. seiner Rituale (s.a. Stöckigt 2009).
Welche Funktion haben Trance-Zustände im Heilungsprozess?
Einschlägige Übersichten zeigen, dass die institutionalisierte Nutzung von veränderten Bewusstseinszuständen in Völkern, insbesondere bei deren Schamanen, weltweit verbreitet ist (Bourguignion 1973). Diese Universalität verweist auf einen wahrscheinlichen adaptiven Wert von Trancezuständen, der dann zu deren Institutionalisierung führte. Die Trancezustände und deren adaptiver Wert formen die psychobiologische Basis des Schamanismus.
Trancezustände sind charakterisiert durch eine qualitative Veränderung mehrerer Funktionen des mittleren Tages-Wach-Bewusstseins (Passie 2007). Diese können, stark vereinfacht, folgendermaßen charakterisiert werden:
- Traumartige Versunkenheit
- Affektive Stimulation
- Vertiefung innerpsychischen Erlebens
- Abnahme der Eigensteuerung
- Visionäres + religiöses Erleben
Die absichtlich hervorgerufenen Trancezustände bei Schamanen stellen 1. den Kontakt in Geister- und Jenseitswelt her, helfen 2. bei der Erklärung und Einordnung von unklaren oder krankheitsverursachenden Ereignissen/Bedrohungen, dienen 3. der Sicherung des Gruppenzusammenhalts, 4. der Stressreduktion und auch – verkörpert insbesondere im Heilungsritual – 5. der psychophysischen Integration.
Offenkundig ist, dass die Schamanen selber die Überzeugung hegen, dass sie im Trancezustand über besondere diagnostische und therapeutische Fähigkeiten verfügen. Ein Faktum scheint zu sein, dass einige veränderte Bewusstseinszustände eine Steigerung der emotionalen und intuitiven Wahrnehmungsfähigkeit bewirken. Zumeist verringern sie auf Basis ihrer neurobiologischen Effekte das Gebundensein an Konzepte und können so eine „offenere“ Wahrnehmung ermöglichen (vgl. Emrich 1989). Zudem wird die Affektivität stimuliert und das innere Erleben im Sinne von traumartigen oder visionären Erlebnissen stark angeregt. Eingesetzt als adaptiver Dissoziationszustand in Heilsituationen, verfeinert und differenziert ein Trancezustand möglicherweise die Wahrnehmungsbilder des Schamanen von der Gesamtverfassung seines Patienten und versetzt ihn in die Lage, sich ohne sogenanntes „Faktenwissen“ orientieren zu können. Im Trancezustand ist der Schamane intensiv auf das zu heilende Subjekt bezogen. Dies impliziert, dass alle Phantasien und therapeutischen Handlungsanweisungen sehr individuell auf den jeweils präsenten Patienten (bzw. dessen Angehörige) bezogen sind. Das dadurch und auch durch den Bezug auf eine transintelligible Welt der Geister und Kräfte akzentuierte affektiv-kognitive Beziehungsgefüge zwischen Heiler und Patient gibt dem Diagnose- und Heilungsprozess in den jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen sein spezifisches Gepräge. Die, nicht überall übliche, Zentrierung der Heilungszeremonie auf den einen oder nur wenige Patienten ist das, was an den Heilungszeremonien der südostafrikanischen Schamanen sehr beeindruckt. Trance ließe sich so als feines Instrument zur Initiierung und Vertiefung einer tragenden Affektbeziehung zwischen Heiler und Patient verstehen - auf einer erweiterten affektiven und bewusstseinsmäßigen Grundlage. Vertiefte und professionell gehandhabte (Über-)Tragungsbeziehungen korrelieren auch in der westlichen Psychotherapie bekanntlich mit gutem Therapieerfolg.
Trance könnte demnach ein wertvoller Zugang zur Erfassung der Gesamtwirklichkeit des Patienten und sogar seiner zu antizipierenden Genesung sein. Dies wäre in Beziehung zu setzen mit der „Übertragung“, dem „szenischen Verstehen“, der „freischwebenden Aufmerksamkeit“ wie auch dem wissenschaftlichen Instrumentarium und Verstehen in der westlichen Psychotherapie. Es darf nicht vergessen werden, dass eine Reihe von schamanistischen Heilpraktiken jedoch nicht nur eine Induktion von Trancezuständen beim Schamanen impliziert, sondern auch eine solche beim Kranken (und teils sogar bei dessen Angehörigen, wenn diese präsent sind). Eine Anwendung von Trance- oder tranceartigen Bewusstseinszuständen zur Heilung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen ist auch in der Tradition der westlichen Medizin nachvollziehbar (vgl. Tabelle 3 sowie Dittrich und Scharfetter 1987). Eine offene Frage ist, inwieweit der Ideentransfer an psychotherapeutischer Methodik zwischen den Kulturen auch zu einem professionellen Gebrauch außergewöhnlicher Bewusstseinszustände in westlichen Psychotherapien führen könnte. Dies würde nicht zuletzt vom Nachweis einer spezifischen transkulturellen Wirksamkeit der Trancetechniken abhängen. Dieser Wirksamkeitsnachweis bedürfte für außergewöhnliche Bewusstseinszustände, trotz einiger vielversprechender Bemühungen (s.a. Dittrich und Scharfetter 1987), noch weiterer systematischer empirischer Fundierung.
Sinnstiftung
Eine Gemeinsamkeit zwischen Psychoanalyse und Schamanismus sieht Nathan (1986) darin, dass die schamanistische und die psychoanalytische Methode ganz zentral und wirksam mit dem Wort arbeiten. Dies ist nicht selbstverständlich bei therapeutischen Methoden, die in ganz unterschiedlichen Kulturepochen entstanden sind. Es scheint gleichgültig zu sein, ob eine Methode, wie zum Beispiel die schamanistische, als eine „primitive“ bezeichnet wird oder eine andere als „wissenschaftlich“. Der therapeutische Erfolg wird zum entscheidenden Kriterium, nicht die Wirkvorstellung. Auch aus der Erfolgsbilanz anderer therapeutischer Methoden lässt sich sagen, dass eine Psychotherapie scheinbar dann erfolgreich ist, wenn die Erklärungsmodelle und Behandlungsschritte des Therapeuten/Heilers für das subjektive und kulturelle Weltverständnis des Patienten plausibel und nachvollziehbar sind. Und dies ist ganz unabhängig von seinem Akkulturationsniveau und von der Tatsache, ob Dritte das benutzte Erklärungsmodell und die Behandlungsschritte als „objektiv“ bzw. im Sinne „wissenschaftlicher Erkenntnis“ ,als richtig beurteilen. Auch in der Behandlungspraxis des Schamanismus lässt sich das Konstrukt eines sinnstiftenden Zusammenhangs zwischen einem Symptom und seiner Diagnose, seiner Ätiologie und der angewandten therapeutischen Methode finden. Zum Beispiel führt die Begegnung mit einer Schlange im Urwald oder ein schockierendes Verlusterlebnis (z.B. ein Unfalltod) zu einer Schreckerfahrung, die als Seelenverlust (Susto) diagnostiziert wird und den Schamanen veranlasst, für den Patienten ein Heilritual zum Zurückholen der Seele abzuhalten. Eine analoge sinnstiftende Logik ist in der westlichen Psychiatrie/Psychotherapie/Psychoanalyse auszumachen. Die psychotherapeutische Arbeit orientiert sich an dem für die Verursachung der Symptome maßgeblichen Konflikt. Generell spielt die Symptomatik für die deskriptive Diagnostik in der westlichen Psychiatrie/Psychotherapie und ebenso für den Schamanen eine herausragende Rolle. Für die Psychotherapie ist sie jedoch mit einem dynamischen Verstehenszugang vor dem Hintergrund der individuellen konflikthaften Lebensgeschichte zu verknüpfen. Der so ergründete Sinn des Symptoms, zum Beispiel einer Schlangenphobie bzw. einer Verlustdepression, führt zu einem bestimmten therapeutischen Vorgehen, das innerhalb des Verstehensmodells der Störung für den Patienten plausibel und erfolgversprechend ist.
Transkulturelle Wirkfaktoren
Neben den in diesem Abschnitt noch zu schildernden psychotherapeutischen Wirkfaktoren, möchten wir zunächst vorwegschicken, dass schamanistischem wie ärztlichem Handeln ein Grundschema von aufeinander folgenden Schritten zugrunde liegt, welches in beiden Handlungszusammenhängen praktisch identisch ist:
- Eruierung + Diagnose
- Sichernde Beziehung
- Klärung + Verklarung
- Affektmobilisierung
- Ressourcenmobilisierung
Die offenkundige Parallelität zwischen einigen Behandlungsmethoden von Medizinmännern bzw. Schamanen und westlicher Psychotherapie führte F. Torrey (1986) bei kulturvergleichenden Psychotherapiestudien zu dem Ergebnis, dass vier Grundelemente in allen Psychotherapiemethoden, die diesen Namen verdienen, vorhanden sind (Basic Components of Psychotherapy):
- Ein gemeinsames Erklärungssystem (a shared world view)
- Die persönliche Qualifikation des Therapeuten (the personal qualities of the therapist)
- Die Erwartungen des Klienten/Patienten (the expectations of the client)
- Die Bewältigungsstrategie (an emerging sense of mastery)
Aus Torreys Sicht nutzen Therapeuten auf der ganzen Welt diese vier Grundelemente von Psychotherapie und verstärken einzelne dieser Grundelemente durch Gebrauch spezieller Techniken. Man hat diese als „unspezifische Wirkfaktoren“ bezeichnet. Es scheint, dass diese Wirkfaktoren sich auch zwanglos in Anschauungen und Praktiken des Schamanismus wiederfinden lassen. Allerdings ist auf die große Heterogenität des Schamanismus und auf die sehr allgemein gehaltene Definition dieser Komponenten hinzuweisen. Dies insbesondere im Hinblick auf die konkret angewandten Techniken, die bei den Schamanen doch erheblich stärker mit einem dramatischen Aspekt, rituellen Verrichtungen, der Verbindung in die Welt des Transintelligiblen, affektiver Katharsis und körperlichen Behandlungstechniken assoziiert sind.
Wirkfaktoren einer allgemeinen transkulturellen Psychotherapie
Setzt man die wesentlichen Merkmale traditioneller Heilkunst und moderner Psychotherapie in einen Vergleich, so lassen sich unter den Gesichtspunkten der Vorbereitung, bei den Wirkfaktoren und bei Verständniszugang und -grundlage größere Übereinstimmungen erkennen, während unter den Gesichtspunkten des Rahmens, der Krankheitskonzepte und der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen (VBL) größere Unterschiede bestehen (vgl. Tab. 2).